Der Verrat

Am Freitag, 13. März, eine halbe Stunde vor Feierabend, bat der Chef mich zu sich. Da man nicht einschätzen könne, wann nach der voraussichtlichen Schließung der Schulen auch die Bildungsträger der Erwachsenenqualifizierung geschlossen werden müssen, wollten wir uns darauf vorbereiten, eventuell im Home Office weiter zu unterrichten. Ich sollte über das Wochenende alles vorbereiten, damit ein solcher Unterricht durchgeführt werden kann. Listen zu erstellen, aus denen hervorgeht, welche Ausbildungsmodule bei den einzelnen Teilnehmern in den nächsten Wochen auf dem Plan stehen, wäre Aufgabe der Kollegin Wirbelwind gewesen. Schon immer. Nur hat sie dies in den letzten Jahren immer mir überlassen, weil sie chronisch überlastet war und ich diese Aufstellungen brauchte, um überhaupt arbeiten zu können. Also habe ich sie selbst erstellt und gepflegt, und das für jeden neuen Teilnehmer. Natürlich auch jetzt.
Am Montag, 16. März wurde die Kollegin Wirbelwind vom Chef höchstpersönlich aufgefordert, mir eine Mail weiterzuleiten, die Links zu virtuellen Workshops enthielt, in denen es darum ging, den Online-Unterricht technisch umzusetzen. Daran sollte ich unbedingt teilnehmen. Selbstredend außerhalb der Arbeitszeit, weil wir ja bislang in der Firma noch genug zu tun hatten. Muss ich jetzt erwähnen, dass die Kollegin Wirbelwind "nicht dazu kam", die Weisung des Chefs zu befolgen? Die Mail bekam ich trotzdem, von einem Kollegen. Natürlich nahm ich auch am Worshop teil. Klar doch, schließlich wollte ich meine Teilnehmer optimal weiterbetreuen.
Am Dienstag, 17. März sollte ich schon vor Arbeitsbeginn zum Chef kommen. Man wisse noch nicht, ab wann die Sächsische Landesregierung die Allgemeinverfügung zum Vollzug des Infektionsschutzgesetzes umsetzten wird, rechne aber damit, dass dies bereits zu Mittwoch passieren werde und dann auch unser Bildungträger geschlossen werden müsse. Wenn jedoch keine Teilnehmer mehr da sind, könne er mir natürlich auch kein Honorar mehr zahlen. Das war mir klar! Meine Stimme troff vor Sarkasmus. Er jedoch war nicht in der Lage, diesen zu erkennen. Er strahlte ich an: Danke, dass Sie das so sehen. Andere Mitarbeiter waren nicht so vernünftig wie Sie. Hä??? Es hätte tausend Fragen gegeben die ich ihm hätte stellen können. Vernünftig??? Und welche Kollegen? Die hochbezahlten Coaches, die maximal 10% so erfolgreich sind, wie ich? Die mir sagten, sie wollten den Job unbedingt weitermachen, weil man für viel Geld wenig tun müsse? Meinte er die? Stattdessen teilte ich ihm mit, dass ich bestens auf den Online-Unterricht vorbeitet bin. Er klärte mich darüber auf, dass wir diesen nicht so einfach durchführen dürfen, weil unsere Kurse bei der Bundesagentur für Arbeit nicht als Online-Kurse zertifizeirt seien und dass sich die Firmenzentrale nun um eine Nachzertifizierung bemühe, dies aber dauern könne.
Zu Mittag teilte mir die Kollegin Wirbelwind mit, dass sie 12.45 Uhr mit dem Kollegen XYZ zu mir kommen und mit meinen Teinehmen sprechen wollte. Zehn Minuten später traf ich den Chef auf dem Flur. Er bat mich noch einmal in sein Büro, um mir mitzuteilen, dass nun der Fall, den wir am Morgen besprochen hatten, eingetroffen sei. Wir würden ab sofort die Teilnehmer nach Hause schicken. Ich dürfte am Mittwoch noch einmal zur Arbeit kommen, um alle offenen Vorgänge abzuschließen. Ab Donnerstag sollte ich dann zu Hause bleiben. Natürlich ohne einen Cent. Wir würden aber in Verbindung bleiben und sobald das Amt den Online-Unterricht genehmigt, werde er mir Bescheid geben. Dabei hatte das Amt die Genehmigung längst erteilt und er wusste das!

Als wenig später Kollegin Wirbelwind und Kollege XYZ mit meinen Teinehmern sprachen, meinte die Kollegin, dass die Bundesagentur am Vormittag kurzfristig und unbürokratisch den Online-Unterricht genehmigt hatte. Weiter kam sie nicht, weil sie heulen musste. Der Kollege übernahm es dann, den Teilnehmern mitzuteilen, wie das in den nächsten Tagen ablaufen werde. Nicht so, wie ich es vorbereitet hatte. Er werde per Mail Zeitfenster mitteilen, in denen die Teilnehmer anrufen können, falls sie Probleme haben. Ansonsten lässt er sie allein. Das hat er natürlich nicht gesagt. Auch nicht, dass dem Chef das Virtuelle Classenzimmer zu teuer ist. Weiterunterrichten – ja, aber nur, um das Geld vom Amt zu kassieren. Wie es den Teilnehmern dabei geht und ob sie etwas lernen, ist vollkommen egal.
Dem Kollegen XYZ war es unglaublich peinlich, dass er mir sozusagen meinen Job wegnehmen musste. Auch, dass der Chef es ihm überlassen hatte, mir das mitzuteilen. Er hatte den Chef gebeten, selbst mit mir zu sprechen, was dieser ja auch getan hat. Nur dass er eben nicht ehrlich war, was wiederum der Kollege XYZ nicht wusste.

Und nun sitze ich hier und habe keine Ahnung, wovon ich im April die Miete bezahlen soll. ALGII beantragen kann ich nicht ohne Weiteres, weil die Ämter keinen Puplikumsverkehr mehr zulassen. Ruft man an, kommt eine Bandansage, dass man nicht anrufen soll, weil die Mitarbeiter genug damit zu tun haben, die laufenden Anträge zu bearbeiten. Klar kann man Anträge online stellen. Dazu muss man sich auf einem Portal anmelden und bekommt dann einen PIN-Code zur eindeutigen Identifizierung. Dieser wird aus Sicherheitsgründen per Post versendet. Dauert also noch. Na, ich bin gespannt.
 
 
Jetzt
…werde ich erst einmal mit der kleinen Frau frühstücken. Das sieht so aus, dass ich mir einen Kaffee mache und sie dann anrufe und mit ihr schwatze, während jede von uns in ihrem Wohnzimmer hockt und Kaffee schlürft.
Bleibt gesund.
Eure Mira