Seltsam – Seltsam
Es war Montag, der 2. Oktober. Das Thermometer kletterte auf 29°C. Es war kein stino Montag, denn wegen des bevorstehenden Feiertages hatte ich für den Brückentag einen Tag Urlaub beantragt. Ursprünglich hatten wir in Familie ans Meer fahren wollen, doch die Mutti war schwer unpässlich, so dass Sohn und SchwieTo ohne uns fuhren und damit unsere Plätze nicht verfallen, ein befreundetes Pärchen mitnahmen.
Ich hatte mir zumindest einen Urlaubsmorgen herausgewirtschaftet, indem ich der Mutti zwei feine Frühstücksteller in den Kühlschrank gestellt und mich für die morgendliche Versorgung auf den Pflegedienst verlassen hatte. So konnte ich es ein klein wenig ruhig angehen lassen und dann einigen Papierkram und ein paar Wege erledigen.
Bevor ich alles hatte erledigen können {das meiste ohnehin für Mutti}, kam der Suchruf, ausgelöst durch den Pflegedienst auf Geheiß der Mutti: Du lässt dich ja überhaupt nicht mehr bei mir sehen. So brachte sie das den Pflegerinnen rüber, die ihr natürlich erst einmal glaubten. Dass ich beispielsweise den ganzen Sonntag bei ihr verbracht hatte und nur durch Mach mal dies, ich möchte jenes innerhalb ihrer kleinen Wohnung auf 7000 Schritte gekommen war, bleibt unerwähnt. Ist ja auch nicht wichtig, dafür hat sie mich schließlich.
Ich kann die Wut verstehen, die manche Pflegende auf ihre Pfleglinge entwickeln. Ich bin auch wütend, allerdings nicht auf die Kleine Frau, sie kann ja nichts dafür, aber auf die gesamte Situation. Und darauf, dass ich mit der Betüddelung überfordert bin. Warum bekomme ich das nicht besser hin? Vermutlich, weil ich durch das ewige Herumgeschubse die lange Zeit vorher schon so ausgelaugt bin, dass ich jetzt, da es wirklich drauf ankommt, keine Kraft mehr habe.
Ich nahm mich schwer zusammen, um nach dem Hilferuf nicht gleich alle Aktivitäten abzubrechen und sofort zu ihr zu springen. Nach tiefem Durchatmen brachte ich meine Erledigungen zu Ende und fuhr dann zur Mutti.
Ich habe Hunger.
Ja, ich koche dir was.
Ich möchte Schnitte, du machst die immer so schön zurecht.
Der Blick in den Kühlschank belehrt mich, dass sie ihren zweiten Frühstücksteller gar nicht angerührt hat.
Den habe ich nicht gefunden! Oha.
Ach, und der Pflegedienst war auch nicht da. Und wer hat mich vorhin angerufen?
Nachdenkliche Stille.
Später am Abend darf ich nach Hause. Ich habe gar nicht so viel gemacht, zumindest habe ich das Gefühl, überhaupt nichts geschafft zu haben, aber ich fühle mich ausgelaugt, wie nach einem Tag im Steinbruch. Entsprechend bekomme ich auch daheim nichts mehr geregelt. Ist ja auch egal. Schließlich ist morgen Feiertag. Da kann ich ja noch bissel herumwirbeln.
Gegen 22.00 Uhr erreicht mich der Anruf eines guten Bekannten. Er betrachtet sich als mein Freund, aber ich definiere Freundschaft etwas anders. Nunja. Jedenfalls meinte er, er sei dortunddort und er sei gestürzt. Ob ich ihn abholen könnte.
Ich versprach ihm, sofort loszufahren, gab aber zu Bedenken, dass er vielleicht besser einen Notarzt rufen sollte. Er flüsterte: Die finden mich nicht. ???
Nun, ich fand ihn auch nicht. An besagter Kirche und in deren Nähe war niemand. Ich rief ihn an, um seinen genauen Standort zu erfahren. Da meinte er, er hätte jetzt die Polizei angerufen, damit sie ihn finden. Sie hätten die besten Möglichkeiten. Das mag wohl stimmen. Trotzdem wollte ich nichts unversucht lassen und zumindest einmal die Kirche umrunden. Dabei stellte ich fest, dass das Tor zum Kirchgarten nicht abgeschlossen war und ging hinein.
Das hätte ich mir mal nicht träumen lassen, dass ich im Schein eines abnehmenden Mondes allein über einen einsamen Friedhof wandere, um einen verunfallten Menschen zu finden. Angst hatte ich keine, ich bin an sich kein ängstlicher Mensch. Einmal erschrak ich allerdings vor meinem eigenen Schatten. Ansonsten war da niemand, auch nicht der Gesuchte.
Im Nachhinein überlegte ich, was gewesen wäre, hätte mich dort jemand gesehen und vielleicht zur Rede gestellt, was ich da will. Dass ich auf der Suche nach einem verunfallten Bekannte war, hätte bestimmt recht seltsam geklungen, um nicht zu sagen, unglaubwürdig.
Glücklicherweise begegnete ich niemandem.
Am nächsten Vormittag bei Sonnenlicht stellte sich die gesamte nächtliche Aktion als riesengroßer Irrtum heraus.
Nun, immerhin war ich nachts allein auf einem Friedhof. Wer kann diese Erfahrung schon für sich verbuchen?
Liebe Mira,
jetzt hast du mit eurer Mutti schon eine enorme Belastung an der Backe, es gibt einen neuen Menschen in deinem Leben und demnächst noch einen Jobwechsel. Und dann jagt dich ein Missverständnis noch nächtens raus! Du kannst dich schwer abgrenzen, das ehrt dich zwar, macht dich auf Dauer aber krank.
Du möchtest deine spätere Zeit als Rentner doch so lange wie möglich gesund genießen. Auf längere Sicht wirst du nicht umhin kommen, die Situation mit eurer Mutti zu überdenken und eine Entscheidung zu treffen. Es geht alles über deine Kräfte.
Ich wünsche dir alles Liebe und Gute, du hast es so verdient!
Liebe Barbara, danke für deine lieben Worte. Sie sind Balsam für meine, zugegeben, geschundene Seele.
Auch wenn es mir schwer fällt, wenn mich die Kleine Mutti anschaut, wie ein hilfloses Kind, ich habe die Entscheidung bereits getroffen. Es muss sich etwas ändern und ich selbst kann das nicht stämmen, selbst mit dem Pflegedienst nicht, weil dieser gerade in den Zeiten, da ich sie am meisten bräuchte, eben NICHT zur Verfügung stehen, z.B. am Wochenende, da lassen sie mich mit der Pflege, der Essenversorgung und mit eben allem allein. Die Wochenend-Tour ist voll. Da können wir keinen mehr aufnehmen. Punkt.
Nun ist es nur eine Frage, wie lange es dauert, bis ich einen schönen Platz für sie finde. Ich habe im näheren Umfeld immer wieder Fälle erlebt, wo es nicht mal eine Woche gedauert hat, bis ein Platz gefunden war. Aber ich bekomme zu hören: Vorläufig gar nicht. Oder: Wartezeit beträgt 3 Jahre. Bis dahin gibt es die Mutti wahrscheinlich gar nicht mehr. Und mich auch nicht, denn, wie du schon sagst, es geht über meine Kräfte. Ich bin dauernd am heulen und ich mache im Alltag gravierende Fehler, die mich auch das Leben kosten könnten. Vorfahrt missachten, gegen einen Baum rennen, im letzten Moment noch vor einer Baugrube stehen bleiben, die Absperrung hatte ich glatt übersehen.
Ich danke dir für’s Zuhören
Verzweifelte Grüße
von Mira